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Den digitalen Wandel zum eigenen Vorteil nutzen

„Auf welche Erfindung möchten sie NICHT verzichten: Auf die Toilette oder auf Facebook?" Mit dieser Frage bringt es der Ökonom Robert J. Gordon (in „brand eins", Mai 2017) sehr deutlich auf den Punkt, wie sich Märkte und Technologien derzeit entwickeln. In der Frühjahrsausgabe des Top Magazins hat uns IT-Businesscoach Artur Gretter den digitalen Wandel hergeleitet und als Begriff definiert. Nun zeigt er uns, wie wir die neue digitale Welt zum eigenen Vorteil nutzen – und was wir dabei von Amazon, Ebay und Aesculap lernen können.

Dazu ist es notwendig, die neuen Technologien mit den Grundsätzen der Betriebswirtschaft zu verknüpfen. Die GAFA Unternehmen (Google, Amazon, Facebook, Apple) der „new economy" werden dabei oft als Vorbilder genannt. Dabei wird übersehen: Die traditionelle Wirtschaft („old economy") ist das Rückgrat unserer Gesellschaft. Hier werden Waren gefertigt, gehandelt und Dienstleistungen dazu erbracht. Der Knackpunkt dabei ist: Wie kommen Waren und Dienstleistungen an die Kunden? Welcher Aufwand steckt dahinter? Und zu welchen Kosten?

Digitale Produkte 

(z. B. Musik zum Download) können ohne nennenswerten Aufwand verteilt und vermehrt werden. Nach den Kosten der Produktion fallen für den Vertrieb (fast) keine Kosten mehr an. Das Geschäft ist damit nahezu beliebig skalierbar.

Physische Produkte 

verursachen für jedes zusätzlich produzierte Stück Herstellungs- und Vertriebskosten. Auch deshalb sind sie nicht in derselben Geschwindigkeit und in dem Maße wie digitale Produkte vermehrbar. Um die Möglichkeiten der Digitalisierung trotzdem zu nutzen, muss der gesamte Prozess von der Produktentwicklung bis zur Lieferung zum Kunden überdacht werden.

Amazon vs. Otto & Co.

Die Logistik der Warenauslieferung beim Versandhandel hat sich nicht wesentlich geändert, seit am Anfang des vorigen Jahrhunderts die ersten Pakete auch in Deutschland verschickt wurden. Damit haben die Unternehmen der „new economy" in diesem Teil der Prozesskette keinen Vorteil gegenüber den traditionellen Unternehmen wie Quelle oder Neckermann. Der wesentliche Unterschied liegt in allen Schritten vor dem Paket-Versand. In zwei Hauptkatalogen pro Jahr (Frühjahr-Sommer, Herbst-Winter) haben die traditionellen Versandhäuser auch Bücher zum Verkauf angeboten. Produktmanager und Einkäufer hatten schon Monate vor dem Druck des Kataloges entschieden, was den Kunden zum Lesen angeboten wird. Eine sicher zu verkaufende Menge wurde bestellt und für den Versand bereits vor der Ausgabe des Kataloges ans Lager gelegt. Die Amazon Gründer haben sich keine Gedanken dazu gemacht, was ihre Kunden lesen möchten. Diese Entscheidung trifft jeder Kunde mit seiner Bestellung selbst. Jedes bestellte Buch wurde besorgt und geliefert, ohne dass ein Buchbestand im Lager Kapital bindet.

Das Werkzeug...

Die Digitalisierung des Versandhandels, der Internet-Shop, war für die Amazon-Gründer nur das Werkzeug für eine neue Art, ein neues Geschäftsmodell, Bücher zu verkaufen. Der eigentliche Handel mit physischen Büchern, eBooks ausdrücklich ausgenommen, kann nicht digitalisiert werden. Digitalisiert wurden die Prozesse beim Handel mit physischen Büchern. Wenn Kunden dabei ihre Bestellung selbst erfassen, wird ein Teil der Verwaltung im Unternehmen an sie übergeben. Das wird akzeptiert – unter anderem, weil auch außerhalb der regulären Geschäftszeiten, von jedem beliebigen Ort aus, sehr schnell das gewünschte Produkt bestellt werden kann.

Intern, extern, das Produkt

Die Optimierung interner Prozesse ermöglicht in diesem Beispiel auch die Optimierung der externen Prozesse bei den Kunden. Die dritte Stufe der Digitalisierung betrifft die angebotenen Produkte und Dienstleistungen selbst. Das Dreieck der Optimierung kann eine Ebene höher direkt auch auf die Produkte und Dienstleistungen eines Unternehmens angewendet werden. Mit dem eBook wurden die physischen Grenzen des traditionellen Buches verlassen. Transportlogistik braucht es nur noch für den eBook-Reader. Ein Hersteller von Motoren etwa kann zusätzlich digitalisierte Messdaten auswerten und für einen besseren Nutzungsgrad der Maschine nutzten (= intern). Wenn er diese Daten auch dem Betreiber des Motors zur Verfügung stellt, kann der die Nutzung der Maschine innerhalb seines Prozesses optimieren (= extern). Für den Hersteller des Motors ist im Rahmen von Garantiezusagen und Wartungsverträgen darüber hinaus denkbar, dass nicht mehr der Motor in einem Blockheizkraftwerk verkauft wird, sondern über raffinierte Mess-, Analyse- und Steuerungstechnik die mit der Maschine erzeugte Energie (= Produkt). Damit wird aus dem traditionellen Maschinenbauer über ein neues Geschäftsmodell ein Energielieferant.

Das war auch früher so

Schon im 19. Jahrhundert wurden in Tuttlingen Skalpelle und Pinzetten höchster Qualität produziert. In dieser Zeit entstand das geflügelte Wort: „Der Rost ist das Brot von Tuttlingen." Denn wie sehr ein chirurgisches Instrument auch gepflegt wurde, eher früher als später hat der Rost es unbrauchbar gemacht und es musste durch ein neues ersetzt werden.

Die Entwicklung des rostfreien Edelstahls am Anfang des 20. Jahrhunderts verursachte deshalb viel Skepsis und große Angst vor dem, was damit auf die ganze Region zukommt. Aber die neuen Möglichkeiten und Chancen wurden genutzt: Traditionsunternehmen wie Aesculap entwickelte Tuttlingen zu einem der weltweit führenden Technologiestandorte für hochwertige Medizintechnik. Für diese insgesamt sehr positive Entwicklung waren die kleinen Entwicklungs-Schritte in jedem einzelnen Unternehmen vermutlich wichtiger als die zugrunde liegende große, neue Produktidee. Denn es reicht für einen erheblichen Vorteil im täglichen Geschäft dem Mitbewerber, um nicht mehr als einen Schritt voraus zu sein.

In einer Zeit der Ungewissheit und des Wandels ist „mehr" weder effektiv noch effizient. Achtung: Nur diesen einen Schritt sind uns oft auch Kriminelle voraus. Um über Sicherheitskonzepte nachzudenken, reicht aber der Platz in dieser Ausgabe nicht aus.

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